Zwangsräume
Antisemitische Wohnungspolitik in Berlin 1939–1945
Online-Ausstellung ab
16.10.2023
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Das Haus hatte fünf Wohnräume, eine Küche und ein Bad. Auf dem Grundstück lag auch ein Gartenhaus. Nach der Aufhebung des Mieterschutzes für jüdische Mieter:innen wurden immer neue Mieter:innen zwangsweise in das Haus einquartiert.
Der Sohn Gerhard Braun erinnerte sich 1986 in einem Interview: „In jedem Zimmer hat eine Familie gewohnt. Außer meinen Eltern und mir waren das bis zum Schluss – 1945 – noch drei weitere Familien. Die Familien wechselten ständig, denn immer wieder wurde das eine oder andere Ehepaar abgeholt.“
Geschichtswerkstatt Berlin-Lichtenrade (Hg.): Direkt vor der Haustür. Berlin-Lichtenrade im Nationalsozialismus. Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste 1990, S. 228
Mit den vorhandenen Quellen lassen sich drei weitere Juden:Jüdinnen nachweisen, die nach 1939 in die Beethovenstraße 29 ziehen mussten. Auf den Deportationslisten findet sich neben der Familie Braun noch eine weitere Person: Clara Feininger, geborene Fürst.
In dem Einfamilienhaus in der Beethovenstraße 29 lebten Felix Julius Braun und Gertrud Martha Hedwig Braun, geb. Kulke, mit ihren Söhnen Werner und Gerhard. Das Paar hatte am 10. Oktober 1907 in Schöneberg geheiratet und lebte seit dem Jahr 1928 in Lichtenrade. Mit der Heirat war Gertrud Braun vom evangelischen zum jüdischen Glauben übergetreten. Die beiden Söhne wurden im jüdischen Glauben erzogen.
Julius Braun und seine Söhne waren ab dem 1. September 1941 zum Tragen des „Gelben Sterns“ verpflichtet, um sich als Juden zu kennzeichnen. Da Gertrud Braun keinen „Stern“ tragen musste, erledigte meist sie Einkäufe und Besorgungen. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verließ der Rest der Familie das Grundstück nur, wenn es unbedingt nötig war.
Der jüngere Sohn Gerhard Braun musste ab 1941 in Berlin-Treptow bei der Metallfabrik Ehrich & Graetz Zwangsarbeit leisten. Im März 1943, während der sogenannten Fabrik-Aktion, war er aufgrund einer Grippe-Erkrankung Zuhause und wurde aber von dort abgeholt. Man brachte ihn zunächst in das Sammellager Große Hamburger Straße und dann in die Rosenstraße.
Ursula Kretschmer, seine spätere Ehefrau, war unter den Frauen, die sich vor dem Gefängnis in der Rosenstraße mutig für die Freilassung ihrer Männer und Angehörigen einsetzten. Nach zehn Tagen wurde Gerhard Braun entlassen. Nun musste er Zwangsarbeit für die Ein- und Verkaufsgenossenschaft Deutscher Glasermeister leisten. Immer wenn er über Bekannte und deren Kontakte von einem drohenden Transport erfuhr, versuchte er, sich eine Zeitlang an möglichst verschiedenen Orten zu verstecken. Auf diese Weise konnte er bis zum Ende des Krieges überleben und heiratete noch im Jahr 1945 Ursula Kretschmer. Gerhard Braun studierte an der Hochschule der Künste in West-Berlin und wurde 1961 Professor für visuelle Kommunikation.
Gerhard Braun erinnerte sich in Aufzeichnungen der Familie auch noch an das Ehepaar Zeidler, die bei ihnen wohnten. Das Paar hat ihm zufolge überlebt und die Familie Braun nach dem Krieg in Berlin besucht. In den historischen Adressbüchern findet sich bis 1938 ein Fred Zeidler in der Ringstraße 7 in Berliner Bezirk Steglitz.
„Angst ist kein permanenter Zustand. So versuchte ich nach der Haftentlassung trotz aller widrigen Umstände ein ‚normales Leben‘ zu führen. Eine Momentaufnahme aus den drei arbeitsfreien Wochen im März 1943: Bei außergewöhnlich warmen Sonnenwetter entspannen wir uns in Liegestühlen im Garten und spielen Schach. Fred Zeidler und ich. Beide sind wir nur von dem Gedanken geleitet, den jeweils anderen matt zu setzen. Ein fast idyllisch erscheinender Augenblick, in welchem wir uns durchaus wohlfühlten – ich erinnere das so.“Zitat aus: Eine Woche im Winter 1943. Unsere Erinnerungen auf Spurensuche. Ursula und Gerhard Braun. Manuskript in Privatbesitz der Familie Braun, Aufzeichnungsjahr unbekannt
Julius, Gertrud und Gerhard Braun mussten ihr Haus nicht verlassen und haben die Zeit des Nationalsozialismus dort überlebt. In den Berliner Adressbüchern findet man Julius Braun als Eigentümer bis 1941, in den Jahren ab 1942 findet sich der Eintrag: E[igentümer] unbenannt. Das Haus verblieb im Besitz der Familie und Gerhard Braun berichtet selbst in einem späteren Interview:
„Manches ist im nachhinein nicht klar, warum es so und nicht anders geschah…wie wir auch nie haben verstehen können, daß meine Eltern ihr Haus in Lichtenrade behalten konnten und es nicht an Nazi-Bonzen abgeben mussten. […] Irgendwie, so haben wir immer vermutet, hat jemand ein wenig die Hand darüber gehalten. Es gab zwar einmal eine Aktion, wo drei oder vier Interessenten kamen und sich das Haus angesehen haben, aber weiter ist nichts geschehen.“„Nazi-Bonzen“ zitiert aus: Nina Schröder: Hitlers unbeugsame Gegnerinnen. Der Frauenaufstand in der Rosenstraße, München 1998, S. 72
Werner Braun war der ältere Sohn von Julius und Gertrud Braun. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) war er schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wiederholten Übergriffen der SA ausgesetzt. Am 9. November 1938 heiratete er die katholisch erzogene Hildegard Kretschmer, deren Mutter aber jüdisch war. Das junge Paar lebte im Gartenhaus auf dem Grundstück der Eltern Braun. Sie hatten vor, Deutschland zu verlassen und in die USA zu emigrieren. Die erforderlichen Papiere hatten sie bereits beantragt. Doch weil die Geburt ihrer kleinen Tochter Ruth am 16. Februar 1940 neue Anträge erforderte, verzögerte sich die Ausreise.
1941 wurde Werner Braun als „Reichsfeind“ auf der Straße verhaftet und im Gefängnis Moabit inhaftiert. Im März 1942 erhielt Hildegard Braun die Aufforderung der Gestapo, sich mit ihrer Tochter für den Transport am 28. März 1942 einzufinden. Am Sammelplatz in der alten Synagoge in der Levetzowstraße traf Hildegard auf Werner und die Familie wurde dann gemeinsam über Trawniki in das Ghetto Piaski deportiert, bei der Ankunft aber vermutlich direkt getrennt.
Ursula Braun berichtet in einem Interview, dass sie zunächst in einer Baufirma angestellt war, die in den von Deutschland besetzten Gebieten tätig war und deshalb genau über das drohende Schicksal ihrer Schwester Kenntnis hatte:
„Die meisten Stellen blieben uns ja verwehrt, weil man den Ariernachweis bringen musste. So kam ich in die Baufirma. Es war schrecklich dort, denn diese Baufirma arbeitete im Osten in den besetzten Gebieten, und so kriegte ich alles mit, was in den KZs geschah – und wie gründlich die Judenverfolgung betrieben wurde. [...] Als meine Schwester weggeholt wurde, wußte ich schon, dass am Ende ihrer Verschleppung der Tod wartete. Wieso ich das wusste? Die Herren in meiner Firma brüsteten sich mit ihren „Heldentaten“ wenn sie wieder aus dem Osten zurückkamen.“Ursula Braun, „Schicksal der Schwester“, zitiert aus: Nina Schröder: Hitlers Unbeugsame Gegnerinnen. Der Frauenaufstand in der Rosenstraße. München 1998, S. 75
Werner Braun wurde im nur wenige Kilometer von Piaski entfernten Konzentrationslager Majdanek als Häftling registriert. Er überlebte nur noch einige Monate. Das Totenbuch von Majdanek nennt den 17. September 1942 als seinen Todestag. Als Todesursache ist „erschossen“ vermerkt. Für Hildegard und ihre Tochter Ruth findet sich kein Todesdatum. Aber auch sie überlebten den Nationalsozialismus nicht.
Als Untermieterin findet sich die am 15. Februar 1879 geborene Clara Feininger. Sie war die erste Ehefrau des Künstlers Lyonel Feininger. In ihrer Vermögenserklärung gab sie an, ab 1940 oder 1941 zwangsweise zur Untermiete im Keller des Gebäudes gewohnt zu haben. Für die Miete hatte sie vierteljährlich 35 Reichsmark zu zahlen. Sie wurde von den Nazis als „Geltungsjüdin“ verfolgt. Die gelernte Pianistin hatte in ihrer Familie zwei jüdische Großeltern und war vorher Mitglied der Jüdischen Gemeinde gewesen. 1901 hatte sie den Maler Lyonel Feininger geheiratet, mit dem sie zwei Kinder – Eleonore (Lore) Helene und Marianne – bekam. Die Ehe wurde 1907 geschieden. Am 10. Januar 1944 wurde Clara Feininger nach Theresienstadt und am 23. Oktober schließlich nach Ausschwitz deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde. Gerhard Braun erinnert sich in einem Interview an sie:
„Frau Feiniger erinnere ich sehr bildhaft: Sie hatte einen äußerst charakteristischen Kopf, nicht unähnlich dem Meister ihres Fachs: Franz von Liszt. Ich sehe sie in der kalten Küche unseres Hauses stehen – sie zauberte aus manchem Notbehelf gut schmeckendes Gebäck.“Gerhard Braun, Zitat aus: Eine Woche im Winter 1943. Unsere Erinnerungen auf Spurensuche. Ursula und Gerhard Braun. Manuskript in Privatbesitz der Familie Braun, Aufzeichnungsjahr unbekannt
Ab 1941 findet sich der Untermieter Martin Matthias, der mit seiner Frau Rosa ebenfalls in der Beethovenstraße wohnte. Martin Matthias verstarb am 24. Januar 1942, Rosa Matthias wurde am 13. Juni 1942 nach Sobibor deportiert und dort ermordet.
In der Veröffentlichung der Geschichtswerkstatt Lichtenrade „Juden in Lichtenrade“ aus dem Jahr 1990 berichtet Gerhard Braun, dass ihm einmal eine Frau aus der Nachbarschaft um den Hals fiel, als er nach einer Festnahme nach Hause kommen konnte und sie sich sehr erleichtert zeigte, ihn wohlbehalten zu sehen. Gerhard und Ursula Braun berichten in persönlichen Aufzeichnungen der Familie auch, dass immer wieder Pakete am Zaun der Beethovenstraße für die Familie deponiert wurden und sie auch Unterstützung fanden, dass es aufgrund ihrer guten Vernetzung in Berlin viele Kontakte gab, die sie mit Informationen, Schutz oder Lebensmitteln unterstützten. Ebenso berichten sie aber auch von Nachbar:innen, Mitschüler:innen und ehemaligen Bekannten, die sich abwendeten. In der Veröffentlichung der Geschichtswerkstatt Lichtenrade wird auch ein Nachbar zitiert, der wohl Hildegard und Ruth Braun in die Levetzowstraße fuhr, wo sie sich an einem Sammelpunkt einzufinden hatten. Er beschreibt auch, dass er ihnen die Koffer in die Synagoge in der Levetzowstraße trug und viele Menschen dort versammelt waren. Allerdings wird in dem gleichen Buch auch beschrieben, dass ältere Bewohner:innen der Gegend um die Beethovenstraße berichteten, sich nicht an jüdische Nachbar:innen und deren Verfolgung erinnern zu können.
Katharina Kretzschmar
24.5.1922 in Berlin
Überlebte
3.8.1880 in Berlin
Überlebte
22.11.1912 in Hirschberg im Riesengebirge (Jelenia Góra)
Deportation am 28.3.1942 ins Ghetto Piaski, verschollen
28.4.1877 in Freystadt in Schlesien (Kożuchów)
Überlebte
16.2.1940 in Berlin
Deportation am 28.3.1942 ins Ghetto Piaski, verschollen
8.5.1909 in Berlin
Deportation am 28.3.1942 ins Ghetto Piaski, ermordet am 17.9.1942
15.2.1879 in Berlin
Deportation am 11.1.1944 ins Ghetto Theresienstadt, am 23.10.1944 nach Auschwitz, dort ermordet
17.7.1880 in Koschurin
Verstorben am 24.1.1942
13.10.1884 in Leipzig
Deportation am 13.6.1942 ins Vernichtungslager Sobibor, dort ermordet
Online-Ausstellung ab
16.10.